[Gedicht] Eibchen

Was nicht in eine der anderen Kategorien passt.
Dolge
Sr. Member
Sr. Member
Beiträge: 424
Registriert: 27.03.2012, 12:20

[Gedicht] Eibchen

Beitrag von Dolge » 11.01.2016, 21:02

Hundert Jahre, reiftest still an Berges Hang
Lotrecht strecktest du dich fünfzehn Meter lang
Feine Nadeln immer grün und rote Frucht
Warst ein Archetyp für deine ganze Zucht

Geschlagen jetzt, nach der Benotung Erste Wahl
ist dein Schicksal nicht ein End' als g'rader Pfahl
wirst versiegelt und gespalten aufgereiht
so vergeht beim Reifen wieder deine Zeit

Schließlich nimmt ein Meister dich in seine Hand
Zählt die Ringe, riecht an dir und stellt dich an die Wand
Längt dich ab und schneidet roh dich in die Form
Jetzt genügst du schon der 6 Fuß großen Norm

Messer und Klingen trennen Fasern von Ringen
schneiden Späne und Holz, bis der Meister voll Stolz
anhebt zu singen: Dieses Werk hier wird mir gut gelingen.

Nun wird dein Leib das erste Mal gebogen
unter des Künstlers Hand die Rundung abgewogen
wieder geschnitten,
auf dem Schnitzbock geritten
geschliffen, poliert,
du bist nicht explodiert

Und was dem Weib seine Locken
sind dir blanke Nocken
aus glänzendem Horn
spitz wie ein Dorn
schließlich von reißfestem Zwirn noch besehnt
schmiegsames Leder wird am Griff straff gedehnt

Und nun wirfst du Pfeile, zweihundert Schritt weit,
Die Hand des Meisters hat dich aus Holz befreit,
denn du war schon immer im Baum gefangen
und durftest nun endlich ans Licht gelangen

Benutzeravatar
Tom Tom
Forenlegende
Forenlegende
Beiträge: 3916
Registriert: 10.07.2011, 15:07

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Tom Tom » 11.01.2016, 21:38

Sehr schön :) gefällt mir richtig gut

lg Tom Tom
Zeit ist eine durchaus relative Angelegenheit

Benutzeravatar
Spanmacher
Forenlegende
Forenlegende
Beiträge: 3530
Registriert: 29.04.2012, 15:01

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Spanmacher » 11.01.2016, 22:04

Das Gedicht zeugt davon, dass der Verseschmied sich auf sehr schöne Weise in einen Eibenstave hineingedacht hat.

Ganz im Sinne von passionierten Bogenbauer/innen.

Danke dafür
Michael
Zuletzt geändert von Spanmacher am 12.01.2016, 11:01, insgesamt 1-mal geändert.
Ein zu hohes Zuggewicht ist nichts anderes als Körperverletzung und verhindert darüber hinaus einen brauchbaren Trainingseffekt.

Benutzeravatar
Dimachae
Hero Member
Hero Member
Beiträge: 651
Registriert: 18.04.2011, 20:00

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Dimachae » 12.01.2016, 07:36

Sehr schön erdacht und geschrieben....
Gruß, Peter

Der Baum der fällt, macht Lärm... Der Wald wächst leise...

Benutzeravatar
Mühle
Sr. Member
Sr. Member
Beiträge: 450
Registriert: 25.09.2010, 22:37

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Mühle » 12.01.2016, 08:58

Ich bin zutiefst gerührt!Warum dürfen die Kinder nicht mal solche Gedichte in der Schule lernen?
LG Mühle
sprach Abraham zu Bebraham:kann ich mal dein Zebra ham?

Benutzeravatar
ralfmcghee
Hero Member
Hero Member
Beiträge: 2019
Registriert: 02.01.2014, 16:00

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von ralfmcghee » 12.01.2016, 09:06

Das dürfen sie bestimmt, wenn Dolges Gedicht eines Tages zur klassischen Literatur gehört. Bis dahin: Toll gereimt, Dolge! :-)
Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht.
Der Student geht zur Mensa bis er bricht.
Mein Bogen geht auf den Tillerstock bis er bricht.

Dolge
Sr. Member
Sr. Member
Beiträge: 424
Registriert: 27.03.2012, 12:20

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Dolge » 12.01.2016, 16:58

Oha. Danke für das viele Lob :)

Ja, ich denke darüber nach, ob ich nicht vielleicht mehr Papierspäne produzieren und das arme Bogenholz nicht zu sehr leiden lassen ;-)

Benutzeravatar
Snake-Jo
Global Moderator
Global Moderator
Beiträge: 8689
Registriert: 10.10.2003, 11:05

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Snake-Jo » 12.01.2016, 17:18

@Dolge:
Netter Versuch, aber was ist mit Versmaß und Metrik? Ich würde noch ein wenig feilen, der Stave ist noch ganz roh.... ;)

Benutzeravatar
Markus
Global Moderator
Global Moderator
Beiträge: 3322
Registriert: 06.08.2003, 23:46

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Markus » 12.01.2016, 18:20

Tillern wird überbewertet ;D ;D

Aber ja, es könnte mit ein wenig Feintiller eine richtige Perle aus dem Gedicht werden. Die Rohfassung ist schon richtig gut! :) :)

Benutzeravatar
Ravenheart
Forengott
Forengott
Beiträge: 22358
Registriert: 06.08.2003, 23:46

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Ravenheart » 13.01.2016, 10:54

Snake-Jo hat geschrieben:@Dolge:
Netter Versuch, aber was ist mit Versmaß und Metrik? Ich würde noch ein wenig feilen, der Stave ist noch ganz roh.... ;)


Beispiel:

Original:
Und was dem Weib seine Locken
sind dir blanke Nocken
aus glänzendem Horn
spitz wie ein Dorn

Besser:
Was dem Weibe seine Locken
sind bei Dir die blanken Nocken
aus glänzendem Horn
so spitz wie ein Dorn

;)

Rabe

Dolge
Sr. Member
Sr. Member
Beiträge: 424
Registriert: 27.03.2012, 12:20

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Dolge » 13.01.2016, 19:26

Ravenheart: Oh, gerade bei der Strophe war ich schon ganz zufrieden, weil die Silbenzahl von Vers zu Vers abnimmt, ohne dass es schleift. Aber ich muss, um dem ganz sauber beizukommen, so schreiben:

Und Was dem Weib seine Locken (7)
sind dir blanke Nocken (6)
aus glänzendem Horn (5)
spitz wie ein Dorn (4)

Benutzeravatar
Markus
Global Moderator
Global Moderator
Beiträge: 3322
Registriert: 06.08.2003, 23:46

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Markus » 13.01.2016, 19:36

Ist es denn gewünscht, dass wir an Deinem Gedicht herumverbessern??

Dolge
Sr. Member
Sr. Member
Beiträge: 424
Registriert: 27.03.2012, 12:20

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Dolge » 13.01.2016, 20:30

Reiftest still wohl Hundert Jahr' an Berges Hang.
Lotrecht strecktest du dich fünfzehn Meter lang.
Feine Nadeln, immer grün und rote Frucht,
warst der Primus, Vorbild einer ganzen Zucht

Frisch gefällt wirst du geschätzt als Erste Wahl,
ist dein Schicksal nicht ein End' als bloßer Pfahl.
Wirst versiegelt und gespalten aufgereiht,
so vergeht beim Reifen wieder deine Zeit.

Schließlich nimmt ein Meister dich in seine Hand,
zählt die Ringe, wiegt dich, stellt dich an die Wand,
längt dich ab und schneidet roh dich in die Form
Jetzt genügst du schon der 6 Fuß großen Norm.

Scharfe Messer und Klingen
trennen Fasern von Ringen,
schneiden Späne aus dem Holz,
bis der Meister voller Stolz
den Rohling beginnt zu besingen:
Dies' Werk hier wird mir gut gelingen.

Nun wird dein Leib das erste Mal gebogen,
mit scharfem Aug die Rundung abgewogen.
Wieder geschnitten,
auf dem Schnitzbock geritten,
geschliffen, poliert,
du bist nicht explodiert.

Was dem Weib seine Locken
sind dir blanke Nocken
aus glänzendem Horn
spitz wie ein Dorn.
Mit reißfestem Zwirn wirst du dann noch besehnt,
Und schmiegsames Leder am Griff straff gedehnt.

Und jetzt wirfst du Pfeile, zweihundert Schritt weit,
Die Hand des Meisters aus dem Holz dich befreit,
denn schon immer du warst im Baum gefangen
und durftest nun endlich ans Licht gelangen


Danke, dass ihr mich angestachelt habt, nochmal drüber zu gehen :) Das einzige, was meiner Meinung nach noch wirklich holpert, ist die letzte Strophe, aber da habe ich gerade keine Inspiration.

Markus: Wer noch gute Vorschläge hat - gern her damit.

Benutzeravatar
Spanmacher
Forenlegende
Forenlegende
Beiträge: 3530
Registriert: 29.04.2012, 15:01

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Spanmacher » 14.01.2016, 00:19

Ich finde Deine Optimierung großartig. Weiter so!
Ein zu hohes Zuggewicht ist nichts anderes als Körperverletzung und verhindert darüber hinaus einen brauchbaren Trainingseffekt.

Benutzeravatar
Ravenheart
Forengott
Forengott
Beiträge: 22358
Registriert: 06.08.2003, 23:46

Re: [Gedicht] Eibchen

Beitrag von Ravenheart » 20.01.2016, 14:18

[quote="Dolge"]

Hmmm, ich weiß, manche Menschen nehmen es (heutzutage!) mit dem Rhythmus nicht mehr so genau!
"Dichter" der "alten Schule" aber tut ein unsauberer Rhythmus weh!

Musst Du natürlich selber wissen, solle um Himmels willen KEINE Kritik sein, allenfalls ein "Augenöffner".

Was ich meine ist folgendes:

- = unbetont
+ = betont

Deine Version ergibt dann das:

Was dem Weib seine Locken (7) +-++-+-
sind dir blanke Nocken (6) +-+-+-
aus glänzendem Horn (5) -+--+
spitz wie ein Dorn (4) +--+

also
+-++-+-
+-+-+-
-+--+
+--+

Neben der Tatsache, dass alle 4 Zeilen unterschiedlich sind, gibt es mehrere ++ oder -- Stellen.
Das ist o.k., wenn es REGELMÄßIG auftaucht, aber MAL...
DAS nennt man "holprig", und das meinte Snake-Jo mit "Metrik"...

Und wie war es bei meiner Version?
Nun...

Was dem Weibe seine Locken +-+-+-+-
sind bei Dir die blanken Nocken +-+-+-+-
aus glänzendem Horn -+--+
so spitz wie ein Dorn -+--+

also
+-+-+-+-
+-+-+-+-
-+--+
-+--+

Unterschied erkannt? :)

Rabe

Antworten

Zurück zu „Vermischtes“